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Hochsensibilität und Extraversion


Dieser Blogeintrag wurde in Absprache mit Anett Bauer von Eva Ishizuka verfasst.


Vielerlei Dinge beeinflussen die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen, ob man bei der Erforschung seines eigenen Charakters beispielsweise Astrologie oder aber auch Psychologie zurate ziehen möchte, sei jedem selbst überlassen. Heute möchte ich mich damit auseinandersetzen, was es bedeutet, zu den bislang vermuteten 2% der Hochsensiblen zu zählen - den extrovertierten Hochsensiblen.

 

Im Gegensatz zu vielen Hochsensiblen, unter anderem auch meiner Mutter Anett Bauer, mit deren Genehmigung ich diesen Blogeintrag verfasse, finde ich mich auf dem Spektrum der Intro- und Extraversion eher gen Extraversion lehnend wieder. Dies hat in meinem Leben oft Probleme verursacht, nicht nur in mir drinnen, sondern auch vor allem im Umgang mit anderen Menschen. Außerdem hat es viele Jahre gedauert, bis ich in der Lage war, diese beiden Aspekte meiner Persönlichkeit miteinander unter einen Hut zu bringen - und auch heute gelingt mir dies nicht immer.

 

Der ewige innere Kampf

 

Gerade in jungen Jahren war dies ein äußerst schwieriges Thema für mich - gehe ich über meine hochsensible Grenze, um auf die Party zu gehen und meine extrovertierte Seite zu befriedigen? Oder lasse ich meine extrovertierte Seite verkümmern, um mich in meiner Hochsensibilität nicht zu über-stimulieren?

Zum Verständnis: Intro- und Extraversion auf einen Blick

Introversion

 

  • Brauchen weniger Stimulation
  • Laden sich lieber in Ruhe auf und reflektieren innerlich
  • Denken bevor sie sprechen
  • Bevorzugen 1:1 Freundschaften

  • Streben nach Unabhängigkeit
  • Verhindern es wenn möglich, im Mittelpunkt zu stehen
  • Schätzen tiefergehende Erfahrungen mehr als das "große Ganze"

Ambiversion

 

 

Ein

bisschen

was

von

beidem

Extraversion

 

  • Brauchen mehr Stimulation
  • Laden sich auf, indem sie mit anderen Zeit verbringen
  • Denken laut
  • Haben einen umfangreichen Freundeskreis
  • Arbeiten besser in Teams
  • Lieben es, im Mittelpunkt zu stehen
  • Schätzen das "große Ganze" mehr als tiefergehende Erfahrungen


Heute bezeichne ich mich häufiger als "Ambivert", da ich beispielsweise sowohl meinen Ladebalken aufladen kann, indem ich mit Menschen Zeit verbringe, aber auch, wenn ich alleine bin. Viele Menschen können mit dem Spektrum der Intro- und Extraversion mehr anfangen als mit Hochsensibilität, da dies oft in die "oh sie heult also oft und viel"-Schublade gesteckt wird. Ich reflektiere sowohl innerlich viel, denke viel nach, bevor ich spreche, aber habe auch Situationen, in denen ich laut denken muss, um zu einer Schlussfolgerung zu gelangen. Der Unterschied zur Introversion liegt jedoch darin, dass ich einige Dinge erst erlernen musste und wieder andere ganz offensichtlich durch meine Hochsensibilität kamen.

 

Die Konfrontation mit der Außenwelt

 

Mit Freundschaften hatte ich es oft nicht leicht. Das Beispiel meiner Abiturzeit auf einer Oberschule in Berlin ist ein deutliches Zeichen für meine Intro-Extra-Kombi: Obwohl ich super viele Leute kannte, hatte ich dennoch nur wenig richtig enge Freundschaften. Meine beste Freundin war manchmal überrascht darüber, wie einfach es mir fiel, neue Leute kennenzulernen und wie viele aus der Schule mit mir bekannt waren. Doch eine wahre Freundin hatte ich nur in ihr - denn sie war die einzige, die bereit war, sich mit der hochsensiblen Extrovertierten "so richtig" anzufreunden. Anfangs war es auch schwer für sie, erzählt sie mir heute manchmal. Doch seit sie gelernt hat, zu erkennen, wann meine Hochsensibilität die Überhand gewinnt, kann sie besser mit mir umgehen und weiß die Vorteile einer hochsensiblen Freundin zu schätzen.

Ich liebte es, mit Freunden zusammen zu sein, doch war schnell über-stimuliert. Als junges Mädchen weigerte ich mich vehement dagegen, meine eigene Hochsensibilität zu akzeptieren und ging regelmäßig über meine Grenzen. Wie viele junge Leute feierte ich Nächte durch, ging in Clubs und ließ mich zu Dingen überreden, die mir eigentlich unangenehm waren, deren Erfahrung ich jedoch mal machen wollte. Eine klare Linie zog ich jedoch bei (härterem) Drogenkonsum - ein Teil Angst, ein Teil Vorsicht, aber vor allem die ganz klare innere Stimme, die mir mitteilte, dass ich diese Dinge nicht nötig habe und vermutlich nicht gut verkraften würde. Leichte Drogen jedoch wurden Teil meines Alltags, um meine Hochsensibilität wortwörtlich zu betäuben. Das Leben war so viel angenehmer, wenn ich nicht alles um mich herum wahrnahm und auf alles reagieren musste.

 

Die Nachwirkungen

 

Was ich besonders interessant finde sind die Nachwirkungen, die ich manchmal erlebe. Da die Hochsensibilität und Extraversion im konstanten Gegeneinander arbeiten, kann ich häufig einfach nur schulterzuckend akzeptieren, was mit mir passiert ist. Ich möchte dies anhand eines Beispiels etwas deutlich machen.

 

 

Wir sind zum Essen eingeladen. Das Essen macht sehr viel Spaß und wir trinken zwei Flaschen Wein, woraufhin wir alle gut dabei sind. Während die anderen Teilnehmer vielleicht schon genug hatten, fängt der Abend für mich erst an. Ich könnte, wenn ich wollte, bis 4 oder 5 Uhr morgens um die Häuser ziehen, hier und da mit Fremden ins Gespräch kommen und dabei einen Haufen Spaß haben. Je betäubter durch den Alkohol ich bin, desto weniger merke ich meine Hochsensibilität, und desto mehr kommt meine Extraversion deutlich zum Vorschein. Willst du eine richtig spaßige Nacht erleben, bei der du einen Haufen Leute kennenlernst? Dann bin ich großartige Gesellschaft.

 

 

 

Am nächsten Morgen merke ich dann natürlich nicht nur die Folgen des Alkoholkonsums, die vermutlich jeden ähnlich treffen würden. Nein, in meinem Fall fühlt sich die Hochsensibilität - wenn wir sie dann mal personifizieren wollen - plötzlich an wie eine meckernde Großmutter, die mit erhobenem Zeigefinger darüber schimpft, wie spät ich letzte Nacht nachhause gekommen bin und dass ich mich über die Kopfschmerzen nicht wundern muss. 

Im Regelfall halten die Symptome bei mir auch mehrere Tage lang an. Ich habe einen Kater vom Feinsten, nicht nur einen, sondern zwei bis drei Tage. Beim letzten Mal war es sogar fast eine ganze Woche, die ich mit körperlichen Beschwerden im Bett lag. Natürlich ist dies nicht alleinig auf die Hochsensibilität zurückzuführen, aber aus meiner Erfahrung heraus hat sich gezeigt, dass wann immer ich zu weit über meine hochsensiblen Grenzen hinausschieße, mein Körper ganzheitlich darauf reagiert. Und da ich hochsensibel bin, kann ich diese Vorgänge, die in meinem Körper passieren, auch nicht einfach ignorieren. Ich fühle jeden Schmerz, jedes Pochen, jeden Umwelteinfluss intensiver als Nicht-Hochsensible.

 

Der Unterschied zur Introversion

 

Wo es viele Hochsensible wahrlich "einfacher" haben, ist es als hochsensible Extrovertierte gar nicht so einfach, eine Balance zu finden. Da Introvertierte im Regelfall gerne alleine und in Ruhe sind, sind sie oft Meister darin, sich ihre Umgebung danach auszurichten und sind auf diese Weise gut darauf eingestellt, im selben Atemzug auch ihre Hochsensibilität mit der Sanftheit zu behandeln, mit der sie behandelt werden muss. Introvertierte bevorzugen es, nicht im Mittelpunkt zu stehen und gelangen dadurch außer in unvermeidbaren Momenten seltener in Situationen, in denen sie kritisiert und beurteilt werden könnten. Da Hochsensible Kritik oft sehr viel persönlicher internalisieren, auch wenn sie vielleicht sogar rational wissen, dass es gar nicht persönlich gemeint ist, ist es für jemanden wie mich, der es liebt, im Mittelpunkt zu stehen, oft ein absolutes Dilemma. Mittlerweile hat da jedoch die Hochsensibilität gesiegt - denn auch wenn ich es liebe, im Mittelpunkt zu stehen, so musste ich jedoch realisieren, dass der von außen verursachte (sehr reale!) Schmerz, dem ich nicht aus dem Weg gehen kann, mein Leben ganzheitlich deutlich negativ und dadurch intensiver beeinflusst, als bspw. der Rausch des positiven Gefühls durch das im-Mittelpunkt-stehen. Mit anderen Worten: Es ist es mir nicht wert.

Sicher gibt es hier Methoden, die jemand wie ich nutzen könnte, um beides unter einen Hut zu bekommen. Ich persönlich bearbeite meine Hochsensibilität auf meine eigene Art und Weise, unabhängig von meiner Mutter, da sie meiner (und auch ihrer) Meinung nach "zu nah dran" ist. Ich glaube jedoch wirklich, dass viele andere von einem Coaching mit ihr profitieren könnten.

Zurück zur obenstehenden Tabelle - auch ich schätze 1:1 Freundschaften sehr viel mehr als einen großen Freundeskreis zu haben. Dasselbe gilt im Übrigen für den Arbeitsplatz - ich arbeite lieber alleine und unabhängig, anstatt in Teams. Im Gegensatz zu einem Introvertierten ist dies bei mir jedoch eher aus "der Not heraus" und nicht, weil ich es von Anfang an so bevorzugt habe. Ganz im Gegenteil, es gibt einen Teil in mir, der sich bis heute unfassbar danach sehnt, eine "unzertrennliche" Freundesgruppe zu haben, wie sie oft in Filmen, Büchern oder Serien dargestellt wird. Die Realität musste mir jedoch immer wieder vor Augen geführt werden - ich hatte keine Wahl, als einzusehen, dass es kaum Leute gibt, die wirklich bereit sind, einander wirklich so zu nehmen, wie man ist. So geriet ich oft ungewollt mit Leuten aneinander und viele "kündigten mir die Freundschaft". Immer und immer wieder musste ich mir anhören, wie "anstrengend", "zu (über-)emotional" und "zu viel" ich bin. Wann immer ich besagte Serien oder Filme sah, in denen "Freunde" teilweise unverzeihliche Dinge zueinander sagen, nur um dann ein paar Szenen später wieder miteinander ein Glas Wein zu trinken, konnte ich nicht fassen, wie in diesen fiktiven Welten Freunde einander so wirklich gemeine Dinge verzeihen konnten, mir jedoch wegen der kleinsten Kleinigkeiten die Freundschaft gekündigt wurde. Solche Freundesgruppen müssen doch Fiktion sein, oder?

Viele Menschen behaupten, dass es besser sei, wenige gute Freunde zu haben als eine große Gruppe von Menschen, die dich kaum kennt. Ich persönlich hätte gerne beides, wenn ich es mir aussuchen könnte, aber ich schätze definitiv die tieferen Freundschaften, die ich mit wenigen Menschen habe, um einiges mehr. Ich bin sehr dankbar, dass sie verstehen, woher bestimmte meiner Eigenheiten kommen, und dass sie deshalb nicht direkt aus der Beziehung mit mir aussteigen, sondern die positiven Aspekte erkennen können. Ich fühle tief, und ich mache meine Gefühle verbal bemerkbar - und anstatt mich auszubremsen und mir das Gefühl zu geben, ich sei falsch so wie ich bin, versuchen sie, mich dort abzuholen, wo ich stehe. In anderen Situationen, in denen sie sich nach meinem Ratschlag sehnen, wissen sie genau, dass ich tief darüber nachdenke und reinfühle, bevor ich etwas sage.

Ich war noch nie gut in Teamarbeit, denn ich bin oft unzufrieden mit der geleisteten Arbeit aller Teammitglieder. So war es oft der Fall, dass ich mich von vorneherein als Leiter etabliert habe. Dies ist ganz eindeutig ein extrovertiertes Merkmal meiner Persönlichkeit, Führungspositionen scheinen mir zu liegen. Dennoch arbeite ich lieber alleine und für mich, der Hochsensibilität wegen. An manchen Tagen ist mein Filter so dünn, dass ich gar nichts auf die Reihe bekomme, und wenn ich es ermöglichen kann, so will ich an diesen Tagen nicht über meine Grenzen gehen müssen, um zu einer Arbeitsstelle zu gehen und zu "funktionieren".

 

Das Alleinsein ohne Einsamkeit erlernen

 

Wie bereits erwähnt, schwanke ich herrlich zwischen zwei sehr gegensätzlichen Polen hin und her. Gehen mein Mann und ich heute zu dem Basketballturnier, für welches er Karten geschenkt bekommen hat, oder machen wir lieber etwas Ruhiges, wobei wir entspannen können? Eine Weile lang versuchen wir, die Vor- und Nachteile abzuwägen. Ob mein Mann hochsensibel ist, kann ich nicht beurteilen, aber er bevorzugt auf jeden Fall Entspannung vor Aufregung, wenn er es beeinflussen kann. Mittlerweile habe ich also einen Partner gefunden, mit dem ich dies zusammen abwägen kann, anstatt immer damit alleine zu sein. (Das Basketballturnier war letztendlich übrigens sehr spaßig, manchmal hilft es wirklich, sich aus seiner Komfortzone herauszubewegen und etwas Neues auszuprobieren. Jetzt, wo ich mich besser kenne, habe ich am selben Tag vorgesorgt, indem ich mir für das Event selbst Ohrstöpsel einpackte - ein Zeichen dafür, wie ich über die Jahre gelernt habe, besser mit meiner Hochsensibilität umzugehen.)

In vielen anderen Situationen jedoch, die meinen Mann überhaupt nicht betreffen, hadere ich noch immer viel in mir selbst. Ich wäge bspw. innerlich so lange die Vor- und Nachteile einer potentiellen Arbeitsstelle ab, bis sie nicht mehr zur Verfügung steht. Ich wäre in meinem Leben gern mit Freunden auf Festivals gegangen, einfach um die Erfahrung Willen, doch musste feststellen, dass die negativen Seiten für mich persönlich zu viel seien würden.

Eine Art und Weise, damit umzugehen, ist mich größtenteils von Social Media fernzuhalten. Ich habe bspw. kein Instagram-Account, weil ich mich nicht ununterbrochen damit konfrontiert sehen möchte, meine Freunde und Bekannten irgendwo abfeiern zu sehen, wo ich gerne dabei wäre, aber aufgrund meiner Hochsensibilität einfach nicht kann. Die extravertierte Seite in mir schreit "SCHNELL! LASS UNS GEHEN UND ENERGIE TANKEN!", während ich durch erneutes Ignorieren meiner Hochsensibilität noch Kopfschmerzen vom Vortag habe. Ich habe also keine Wahl, als heute zuhause zu bleiben und mich auszuruhen, auf diese Art und Weise Energie zu tanken, damit ich hin und wieder dann vielleicht auch mal meine extrovertierte Seite befriedigen kann.

 

Aber das Alleine-Sein musste ich erst lernen. Es war nicht einfach für mich, alleine zu sein ohne mich dabei einsam zu fühlen. Mittlerweile habe ich einige gute Taktiken entdeckt, die mir dabei helfen, meine "Ladezeit", die ich allein verbringe, auf für mich angenehme Weise zu füllen.

 

Fazit

 

Wie eventuell zu erkennen ist, ist die sehr seltene Kombination von Extraversion und Hochsensibilität ein stetiger innerer Kampf zweier gegensätzlicher Pole, die man als extrovertierte/r Hochsensible/r irgendwie zu balancieren versucht. Einerseits liebt man das Rausgehen, andererseits blendet die Sonne, es stören Autos und die Musik, von den Gerüchen ganz zu schweigen. Um besser mit seiner eigenen Hochsensibilität umgehen zu lernen, sowie beides miteinander in das eigene Leben zu integrieren, kann ein Coaching nur gut tun. Es muss nicht bei einem permanenten innerem wie äußerem Kampf bleiben.


Datum der Erstveröffentlichung: 31. Januar 2023

Datum des letzten Edits: 08. März 2023